Rückenschmerzen stellen nach Kopfschmerzen das häufigste Schmerzsyndrom dar. In Deutschland verursachen Rückenschmerzen unterschiedlichen Berechnungen zufolge 15–30 % der Arbeitsunfähigkeitstage und 18 % aller Frühberentungen.
Die überwiegende Mehrheit der Patienten leidet an sog. unspezifischen Rückenschmerzen. Nach etwa 6 Wochen sind 90 % der Patienten mit akuten Rückenschmerzen wieder in der Lage, ihrer Arbeit nachzugehen, wohingegen Schmerzfreiheit nur bei 40–60 % erreicht wird.
Am häufigsten sind lumbale Radikulopathien Folge eines Bandscheibenvorfalles. Bei der Diagnostik muss jedoch sorgfältig auf eine Übereinstimmung von einer nachgewiesenen morphologischen Veränderung im CT/MRT mit der Klinik und dem Beschwerdebild geachtet werden, da über die Hälfte aller nachgewiesenen Diskushernien keinerlei Beschwerden machen.
Mit zunehmendem Alter wandelt sich der gallertartige Kern (Nucleus pulposus) in einen fibrösen Kern um und er verliert seine straffe Textur. Experimentell wurde gezeigt, dass eine mechanische Kompression der Nervenwurzel nicht zwingend Schmerzen verursachen muss. Somit gibt es neben der mechanischen Komponente noch weitere Pathomechanismen der Schmerzentstehung. Direkte Hinweise auf eine entzündliche Komponente lieferte der Versuch, welcher zeigte, dass auch ohne eine mechanische Kompression tierexperimentell eine Nervenwurzelschädigung nur durch lose Auflage von Bandscheibengewebe auf die Nervenwurzel hervorgerufen werden kann.
Der lokale Kreuzschmerz wird bei einem medianen Bandscheibenvorfall durch Druck auf das hintere Längsband ausgelöst und kann isoliert ohne Beinschmerz vorhanden sein. Der Beinschmerz entsteht durch die Kompression und die entzündliche Reaktion der Nervenwurzel.
Spezifische Kreuzschmerzen werden durch klar definierte Ursachen ausgelöst und erfordern eine spezifische, zum Teil fachübergreifende Therapie. Als häufigste Ursachen kommen im Bereich der Lendenwirbelsäule neben Bandscheibenvorfällen knöcherne degenerative Veränderungen vor.
Seltener können Wurzelschädigungen auch von lokalen Raumforderungen ausgehen (Tumoren, Knochenmetastasen) oder von intraspinalen Prozessen (z. B. Ependymome, epidurale Blutungen, epidurale Lipomatose), von entzündlichen Veränderungen (Spondylodiszitis, Lyme-Radikulitis, Zoster, GBS, epiduraler Abszess) oder im Rahmen einer Meningeosis carcinomatosa.
Ein Sonderfall ist die Claudicatio caudae equinae bei einem primär oder sekundär engen Spinalkanal mit gehstreckenabhängigen ein- oder beidseitigen Schmerzen und ggf. zusätzlichen sensomotorischen Ausfällen. Typischerweise Bestehen in Ruhe und im Sitzen keine Beschwerden. Jede mit einer Hyperlordosierung verbundene Haltung führt zu einer Zunahme der Lumbalkanalstenose und damit zu einer Schmerzverstärkung, wohingegen eine LWS-Kyphosierung eine Schmerzlinderung zur Folge hat. Während bei der vaskulären Claudicatio intermittens bloßes Stehenbleiben zur Schmerzlinderung führt, ist bei der Claudicatio spinalis daher zusätzlich eine Veränderung der Wirbelsäulenposition notwendig – typischerweise Absitzen oder Vornüberbeugen.
Eine strikte Abgrenzung der lumbalen Wurzelschädigung von Kreuzschmerzen, die radikulär anmuten und in die Beine ausstrahlen können, jedoch eine andere Genese aufweisen, ist notwendig. Es handelt sich dabei um sog. pseudoradikuläre Syndrome. Der neurologische Untersuchungsbefund ist hierbei jedoch meist unauffällig. Ursachen sind in der Regel orthopädische Erkrankungen (Coxarthrose, Gonarthrose, Facettensyndrom, Ileosakralgelenksyndrom, Kokzygodynie, Piriformis-Syndrom, osteoporotische Wirbelkörperfrakturen, Tendomyopathien bei Überlastungen oder Muskelzerrungen), gelegentlich auch primäre Muskelerkrankungen, die häufig mit Lumbalgien und ausstrahlenden Schmerzen einhergehen können.
Symptome und Verlauf
Prinzipiell unterscheidet man einen Kreuzschmerz von einem Beinschmerz, da ein Beinschmerz, bzw. ein provozierter Beinschmerz ein guter klinischer Indikator für einen Bandscheibenvorfall ist. Akut oder subakut auftretende einschießende Schmerzen oder Kribbelmissempfindungen im Ausbreitungsgebiet einer Nervenwurzel fehlen nur selten. Sensibilitätsstörungen im entsprechenden Dermatom, (der Nervenwurzel entsprechendem Hautareal) motorische Ausfälle der Kennmuskeln und ggf. Reflexausfälle können je nach Schweregrad hinzukommen. In der Mehrzahl der Fälle bestehen ein mitunter nur einseitiger paravertebraler Hartspann, ein Klopf- oder Druckschmerz über der Wirbelsäule, ein Husten-, Press- und Niesschmerz und positive Nervendehnungszeichen.
Fehlen Nervendehnungszeichen und besteht ein besonders nächtlich auftretender und therapieresistenter Schmerz, der nicht durch LWS-Bewegung beeinflussbar ist, sollte immer an eine Radikulitis (Borrelien, Herpes zoster) oder einen Tumor gedacht werden.
Klinische Untersuchung
Sorgfältige Anmneseerhebung
- was, wann, wie, wo, wodurch?
- Hinweise für Traumata, Frakturen, Infektionen
- Differenzierung: Rückenschmerz und/oder Beinschmerz und Ruheschmerz/bewegungsinduzierter Schmerz
- Erhebung der psychischen und sozialen Anamnese (Chronifizierungsgefahr)
Klinisch-neurologische Untersuchung
- Inspektion (Zoster-Effloreszenzen), Beachtung der Form, Klopfschmerzhaftigkeit und Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule
- Nervendehnungszeichen
- Druckschmerzhaftigkeit der Valleix-Punkte
- Untersuchung der Kraft der Kennmuskeln
- Untersuchung der Oberflächensensibilität (meist deutlich weniger ergiebig als die motorische Testung)
- Untersuchung der Muskeleigenreflexe an den Beinen. Sie sind bei Nervenwurzelaffektion meist abgeschwächt oder erloschen, gelegentlich können sie jedoch trotz eindeutiger radikulärer Symptomatik auch normal auslösbar sein.
Neuroorthopädische Untersuchung
- Finger-Boden-Abstand, Schober-Zeichen
- Seitneigungsschmerz (oft positiv bei lateralen und extraspinalen Diskushernien)
- Reklinationsschmerz (oft positiv bei Spinalkanalstenose und/oder Facettensyndrom)
- Klopfschmerz über LWS (Spondylodiszitis, Tumor, Osteoporosefraktur)
- Laboruntersuchungen
- Bildgebung (Röntgen der LWS, ggfs. MRT, CT, Myelo-CT)
- Neurophysiologische Untrsuchungen (ENG, EMG, SSEP, MEP)
Die Säulen der Therapie sind: Aufklärung, Rückenschule und Bewegungstherapie, physikalische und manuelle Therapie, Pharmakotherapie und ggfs. invasive bzw. operative Verfahren. Verhaltenstherapie sowie eine multimodale (interdisziplinäre) Schmerzbehandlung sind bei Entwicklung eines chronischen Schmerzes angezeigt.
Aufklärung und Beratung
Bei erhaltener Mobilität steht am Anfang die Aufklärung des Patienten und die Aufforderung, zu normalen Aktivitäten zurückzukehren.
Entlastung und Ruhigstellung sind für Patienten mit Lumbalgien in der Akutphase nicht empfehlenswert, da hierfür kein sicherer Therapieeffekt nachgewiesen wurde; auch für Patienten mit radikulären Syndromen ist eher Physiotherapie und Aktivität spätestens 4 Tage nach dem akuten Ereignis angezeigt. Bettruhe von mehr als 4 Tagen ist nicht empfehlenswert.
Bei schmerzbedingter Immobilität, wie sie häufig zu Beginn eines lumboradikulären Kompressionssyndroms auftreten kann, ist eine frühzeitige und konsequente Schmerztherapie mit NSAR, Muskelrelaxanzien und ggf. auch Opiaten unter Kontrolle des Neurostatus notwendig. Sofern ambulante Therapieresistenz besteht oder die neurologischen Defizite zunehmen, wird eine akutstationäre Krankenhauseinweisung notwendig
Physikalische Maßnahmen
In der Anfangsphase wurde ein positiver Effekt von lokalen Wärmeanwendungen gefunden, bei chronischen Rückenschmerzen konnte die Wirksamkeit bisher nicht nachgewiesen werden. Bewegungstherapie im Wasserbad, Entspannungsübungen und Lockerungsübungen sind nicht eindeutig bewertet.
Massage und Elektrotherapie
Bei stark begrenzter Datenlagen gibt es Hinweise darauf, dass eine Kombination von Massage mit Bewegungstherapien bei subakuten und chronischen Rückenschmerzen hilfreich sein kann. Bei der akuten Radikulopathie mit ausgeprägtem Lokalsyndrom mit paravertebralem Hartspann ist unter empirischen Gesichtspunkten eine Kombination von Elektrotherapie und Bindegewebsmassage zur Normalisierung des Muskeltonus und somit zur Schmerzreduktion sinnvoll.
Prinzipiell ist aber, sobald der Patient ein ausreichendes Maß an Mobilität erreicht hat, aktiven Therapien wie Muskelaufbau und Ausdauersport der Vorzug zu geben.
Funktionelle Magnetstimulation:
In unserer Praxis behandeln wir akute und chronische Rückenschmerzen erfolgreich mit der fMS.
Physiotherapie und Rückenschule
Bei akuten Rückenschmerzen mit Beinschmerzen ist Bettruhe oder die Durchführung von Physiotherapie nicht besser als die Weiterführung der Aktivitäten des täglichen Lebens. Bei schmerzbedingt eingeschränkter Mobilität ist unter empirischen Gesichtspunkten eine gezielte Physiotherapie zur Korrektur der Fehlhaltung und Muskeltonuserhöhung hilfreich. Auf den Schmerz und den Funktionsstatus hat die Physiotherapie wenig Einfluss.
Da die Konzepte sehr unterschiedlich sind, ist eine abschließende Bewertung letztendlich nicht zu treffen. In Analogie zum unspezifischen akuten Rückenschmerz sollte beim spezifischen Rückenschmerz Physiotherapie zur Anwendung kommen. Kontrollierte Bewegungsübungen (d.h. Übungen, die der Patient nach kurzer Anleitung durch einen Physiotherapeuten oder nach schriftlicher Anleitung selbst durchführt) sind vor allem bei chronischen Rückenschmerzen zur Funktionsverbesserung angezeigt. Sie sind aber auch bei subakuten Beschwerden wirksam.
Unter Rückenschule hingegen versteht man ein präventives Training der Rückenmuskulatur für rezidivierende Kreuzschmerzen sowie ein sinnvolles rückenschonendes Verhalten im Alltag. Es ergeben sich Hinweise für eine Besserung von Schmerz und Funktion vor allem bei rezidivierenden und chronischen Rückenschmerzen. Die Rückenschule sollte daher insbesondere beim Übergang eines akuten Rückenschmerzes mit Beinschmerzen in ein chronisches Stadium zur Anwendung kommen.
Verhaltenstherapie
Aufgrund der Interaktion von somatischen und psychischen Faktoren bei der Schmerzentstehung und -unterhaltung ist es vor allem bei chronischen Rückenschmerzen ein vorrangiges Ziel, durch die Beeinflussung der kognitiven Prozesse eine Symptombesserung zu erreichen. Häufig werden diese Verfahren mit medikamentöser Therapie und Physiotherapie kombiniert. Der Patient wird dabei über Art und Entstehung der Erkrankung aufgeklärt, angstmotiviertes Vermeidungsverhalten soll abgebaut und ein gestuftes Aktivitätsprogramm unter Nutzung verhaltenstherapeutischer Vorgehensweisen aufgebaut werden. Ziel ist nicht die Schmerzbeseitigung, sondern das Erreichen einer verbesserten Schmerzbewältigung und eines höheren Funktionsniveaus.
Wir setzen in der Praxis Biofeedbacktherapie ein.
Medikamentöse Therapie:
Pharmakotherapie der Rückenschmerzen infolge einer lumbalen Radikulopathie:
- Nicht-Opioid-Analgetika
- Paracetamol
- NSAR
- Ibuprofen
- Indometacin
- Naproxen
- Andere Analgetika
- Metamizol
- Schwach wirksame Opioide
- Tramadol
- Tramadol retard
- Tilidin + Naloxon
- Tilidin + Naloxon ret.
- Stark wirksame Opioide
- Morphin ret.
- MSR Mundipharm
- Capros (ret.)
- Oxycodon
- Fentanyl transdermal
- Buprenorphin transdermal
- Buprenorphin sublingual
Myotonolytika
Antidepressiva
- Amitriptylin
- Clomipramin
- Doxepin
- Imipramin
- Duloxetin
Operative Therapie:
Indikationen
Anhaltende Kreuzschmerzen ohne radikuläre Symptomatik sind keine Indikation für eine Operation. Prinzipielles Ziel der Dekompressionsoperation ist neben der Besserung des sensomotorischen Defizits die Besserung der Schmerzsymptomatik. Die Beinschmerzen sind hierbei deutlich besser zu beeinflussen als die Rückenschmerzen. Bei chronischen Kreuzschmerzen ist eine Operation nur selten angezeigt, zumal es keine eindeutigen Hinweise dafür gibt, dass ein operatives Vorgehen den konservativen Maßnahmen überlegen ist und auch das Operationsrisiko mit einbezogen werden muss.
Absolute Indikationen für eine Operation
- Kauda-Syndrom mit akuter Paraparese bei Massenvorfall oder pathologischer Wirbelkörperfraktur
- Blasen- und Mastdarmlähmungen
- progrediente und akut aufgetretene schwere motorische Ausfälle (schlechter als KG 3/5)
Relative Indikation
trotz ausreichender intensiver konservativer Maßnahmen (in der Regel über 6 Wochen) nicht ausreichend therapierbare Schmerzen bei passender klinischer Symptomatik und zur Klinik passender bildmorphologisch gesicherter Wurzelkompression.
Was gibt es Neues?
Lumbale Bandscheibenvorfälle bei Gesunden finden sich kernspintomografisch bei 20–30 % der unter 60 Jahre alten Probanden und bei > 60 % der über 60 Jahre alten Menschen.
Chronifizierte Rückenschmerzen ohne radikuläre Ausstrahlung sind durch operative Maßnahmen in der Regel nicht besserungsfähig
Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick
- keine Bettruhe, sondern leichte bis mäßige Belastung
- frühzeitig und ausreichend analgetische Therapie mit NSAR, muskelrelaxierenden Medikamenten; bei starken Schmerzen kurzfristig Opioide
- bei schmerzbedingter, ambulant nicht therapierbarer Immobilität und „Red-Flag“-Symptomen ist die akutstationäre Krankenhauseinweisung notwendig.
- frühzeitige Operation bei progredienten Paresen oder Blasen-Mastdarm-Störungen
- elektive Operation bei erfolgloser konservativer ambulanter und/oder stationärer Therapie bei gesicherter morphologischer Ursache der Schmerzsymptomatik
- Bei Entwicklung chronischer Schmerzen ist eine Kombination mit Physiotherapie und psychotherapeutischen Verfahren (Verhaltenstherapie, Schmerzbewältigungsprogramme) angezeigt.
- Beim Übergang vom akuten in einen chronischen Schmerz können auch bei der lumbalen Radikulopathie schmerzdistanzierende (Antidepressiva) und membranstabilisierende Medikamente (Antiepileptika) in Analogie zu anderen Schmerzsyndromen und Neuralgien eingesetzt werden .